Institut für
angewandte
Sozialwissenschaft
Forschungsfelder - Migration
Migration steht für uns unter den Perspektiven Differenz, Integration und Identität. Ohne Differenz (z. B. kultureller, sprachlicher, ökonomischer, religiöser Art) gäbe es keine Migration. Diese ist immer eine Status-Passage, im Prinzip wie andere auch, nur nicht, wie viele von ihnen (insbesondere Pubertät, Heirat, Geburt und Tod) auf eine kollektive geteilte Weise ritualisiert. Das lässt Raum für mehr persönliches Erleben, für mehr Affekte, der Freude, aber auch mehr Schmerz und für mehr Variationen der Lösung. Diese, übergreifend als Integration bezeichnet, was auch immer das genau heißt und wie auch immer gut sie gelingt, ist letzten Endes nur in Generationen zu begreifen. Untersuchungen finden aber in der Regel zu einem gegebenen Zeitpunkt statt, sehr selten als Beobachtungen und Analyse von Langzeitverläufen. Das relativiert ihre Ergebnisse, verweist aber auf die Relevanz von Trends. Das Ergebnis sind stets veränderte Identitäten ganz unterschiedlicher Ausprägung. Als Bezugsfolie für die Untersuchung aktueller Migrationsprozesse in Deutschland und Europa ziehen wir gerne die Ergebnisse von Untersuchungen aus dem klassischen Migrationsland, den USA, heran. Hierzu gibt es eine reichhaltige sozialwissenschaftliche Literatur, die typischerweise um das Thema der kulturellen und sozialen Integration kreist. Die vielfältigen Muster von Identität zeigen verschiedene Integrationspfade, die nicht nur unterschiedlich sondern zum Teil auch widersprüchlich und konflikthaft sind.
Forschungsprojekt Migration Identität Integration >
A: Kulturentwicklung und Identitätsentwicklung >
Dabei geht es hier nicht um Migration allgemein, sondern exemplarisch um Migration aus Ländern anderer Kulturkreise als des westeuropäischen, insbesondere des islamischen, afrikanischen und slawisch-orthodoxen Kulturkreises.
Die Differenzen zwischen den genannten anderen und dem europäischen Kulturkreis sind vielfältig und lassen sich schwer auf einen oder einige Nenner bringen. Ihre Bestimmung hängt davon ab, was unter Kulturkreis und weitergehend was unter Kultur verstanden wird.
Ohne eingehend auf die Literatur hierzu einzugehen, herrscht jedenfalls Übereinstimmung darin, dass Sprache, Werte und Normen, Traditionen der Lebenswelt, Religion sowie die Art und Weise der Ausgestaltung anderer gesellschaftlicher Teilsysteme wie Politik, Wirtschaft, Erziehung und Bildung etc. dazugehören. Im Hinblick auf die Lebenswelt zentral ist sicherlich die Familie, darin insbesondere das Generationen- und Geschlechterverhältnis.
Diese Aufzählung zeigt, wie komplex ein angemessenes Verständnis von Kultur ist. Üblich sind deshalb Verkürzungen auf zentrale Teilaspekte. Es fragt sich aber, wie geeignet diese sind. So ist exemplarisch die Vorstellung einer deutschen Leitkultur nicht weniger komplex und zudem für die hier angestrebte Perspektive zu eng, weil ähnliche Probleme der Integration von Migranten auch in anderen europäischen Ländern bestehen. Auch das Konzept einer europäischen Kultur ist nicht einfacher zu fassen, obwohl es auf der Ebene eines Kulturkreises i. S. von Huntington zumindest kompatibel ist mit den angesprochenen anderen Kulturkreisen.
Wir schlagen deshalb vor, die zentrale relevante Unterscheidung mit dem Begriffspaar Moderne vs. Vormoderne anzusetzen. Auch dies beinhaltet natürlich eine Vielzahl von Differenzierungen und wird auch der Tatsache nicht gerecht, dass es natürlich in beiden Kulturkreisen schon moderne und noch vormoderne Elemente gibt.
Aus der Perspektive der einzelnen sozialen Akteure, der Lebenswelt, ist die Moderne u.a. durch die folgenden zentralen Bestimmungen charakterisiert.
1.
Die Teilsysteme der modernen Gesellschaft sind gegeneinander autonom, das heißt sie folgen einer eigenen internen Logik, die idealerweise nicht oder nur sehr begrenzt durch Einflüsse anderer Teilsysteme bestimmt wird.
So haben sich, um gleich einen zentralen Gesichtspunkt zu benennen, Wissenschaft, Politik, Recht, Erziehung und Bildung und vielfach auch Strukturen der Lebenswelt wie die der Familie von der Religion emanzipiert.
Für die sozialen Akteure bringt das die Aufgabe mit sich, ein differenziertes Set von Rollen zu entwickeln, um in den verschiedenen Teilsystemen angemessen agieren zu können. Die Sozialisation zielt deshalb darauf ab, insbesondere durch die Gestaltung der Eltern-Kind-Beziehung und die sie prägende Beziehung der Eltern zueinander dies zu ermöglichen und zu fördern. Eine zentrale Stelle hierfür im
Lebenslauf ist die Adoleszenz.
2.
Soziale Konflikte werden in der modernen Gesellschaft durch das Rechtssystem bearbeitet.
Dieses ist weder göttlich gegebenes noch Naturrecht sondern positives Recht, d.h. von den Menschen als Bürgern selbst geschaffenes Recht, grundlegend gebildet als Verfassung/ Konstitution, die als Gründungsakt und Basis aller anderen Rechte gilt. Es legitimiert sich durch diesen Konstitutionsbezug und durch die ihm praktizierten objektivierbaren Verfahren. Das Rechtssystem ist eigenständig (Gewaltenteilung) und bezieht seine Wirkkraft aus der des Staates, der über ein Gewaltmonopol verfügt. Dieses Monopol legitimer staatlicher Gewalt = Machtausübung hat sich im Prozess der Zivilisation durch den Verzicht der Bürger auf Gewalt unter- und gegeneinander gebildet. Die Gewaltfreiheit der Gesellschaft und das Gewaltmonopol des Staates sind zwei Seiten einer Medaille. Mit der Etablierung dieser Differenz im zivilisatorischen Prozess geht das Aufgeben von gewaltsamen Körperstrafen (zu Gunsten von Zeit- und Geldstrafen) einher. Das derart legitimierte Recht kann soziale Konflikte gewaltfrei lösen, weil und so lange es generell anerkannt ist. In einer einmal etablierten und anerkannten Rechtskultur können erhebliche Teile des Rechts ohne aktives Eingreifen der Justiz als Konfliktregler fungieren: durch Vergleiche, außergerichtliche Ausgleichs- und Mediationsverfahren u.a.m..
Für die einzelnen Akteure bedeutet das, die Legitimität des Rechtswesens als Konfliktlösungsmedium in seiner bestehenden Form anzuerkennen und sich im Laufe der Sozialisation entsprechende eigene Konfliktlösungspraktiken (Verfahren, Gewaltfreiheit, verbale Kommunikation und Argumentation) anzueignen. Gute Beispiele hierfür – neben den grundlegend bestimmenden entsprechenden Praktiken und Erfahrungen in der Herkunftsfamilie - sind Konfliktmoderations- und lösungstrainings für Schüler.
3.
Ein weiteres typisches Element der Moderne ist die Orientierung an Leistung an Stelle von Status als Mechanismus des Erwerbs und der Bestimmung sozialer Positionen. Konkret: man fragt nicht, wer bist du (und meint damit den Status) sondern: was machst du (und meint damit den durch die eigene Leistung erworbenen Beruf).
Vgl. dazu generell die „pattern variables“ von Parsons zu Unterscheidung von Vormoderne und Moderne: ascription vs. achievement, Diffusität vs. Spezifität und Affektivität vs. Neutralität.
Die Sozialisation bahnt dies durch entsprechende Gratifikationen in den Schulen, in weiterführender Bildung und Ausbildung und dann im Beruf selbst. Sie bereitet darauf vor, indem sie die Statusrollen, die durch Generation und Geschlecht bestimmt sind, dem Entwicklungsstand entsprechend möglichst egalitär gestaltet und Differenzen in Überschüssen an Autorität als im Prozess des Heranwachsens der Kinder zunehmend zu legitimierende definiert. (So ist es sicher kein Zufall, dass Länder mit einer geringen Statusdifferenz zwischen Generation und Geschlecht (exemplarisch Schweden, Norwegen, Niederlande u.a.) in den Rankings der Lebensqualität in den empirischen kulturvergleichenden Studien ganz oben stehen).
Ausdifferenzierung von Rollenhandeln, das eine möglichst breite Teilhabe an den bestehenden differenzierten Subsystemen der modernen Gesellschaft ermöglicht, gewaltfreie, kommunikativ und argumentativ orientierte und normierte Verfahren anerkennende Modi der Konfliktlösung und die von Status möglichst unbeeinträchtigte Orientierung an Leistung als Medium des Zugangs zu sozialen Positionen lassen sich also als relativ konkrete Muster benennen, die das Handeln der einzelnen und die umgebende Kultur in der hier eingenommenen Perspektive der Unterscheidung von Moderne und Vormoderne verbinden.
B: Identitätsentwicklung, Krisen und neue Lösungen >
Damit wird nicht nur die Frage der sozialen Integration der Migranten angesprochen. Auch und insbesondere die Veränderung der Identität im Prozess der Migration ist zu untersuchen, eben weil die " neue " Identität - egal, wieweit noch Bestandteile der früheren Identität weiterbestehen – zumindest ebendies (s.o. 1-3) beinhalten und leisten muss, um in der neuen sozialen und kulturellen Umgebung erfolgreich bestehen zu können. Und als Prozess gesehen lässt sich so auch die Migration selbst als schwierige Status-Passage eines solchen Übergangs hin zu einer Konfiguration von Identität konzipieren, die auch diese „modernen“ Anforderungen erfüllt.
Die Entwicklung im Lebenslauf beinhaltet typische Schwellensituationen, die Aufgaben stellen, die man bewältigen muss, um sich weiter zu entwickeln.
Die erste Schwelle ist die Entwicklung einer stabilen und vertrauensvollen Bindung zwischen Säugling und Mutter. Die Bindungsforschung zeigt, dass es schon hier bei einem zu erheblichen Störungen und Beeinträchtigungen kommen kann, die für die weitere Entwicklung in affektiver, kognitiver, moralischer und insgesamt sozialer Entwicklung erhebliche (negative) Folgen haben können.
Die zweite Schwelle ist der Ausgang des Kindes aus der Familie und seine Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen („peers“) im Rahmen von Institutionen, in denen außerfamiliale Ansprüche, Verhaltensregeln, Normen und Werte gelten, exemplarisch Kindergarten und Schule. Norm- und Leistungsorientierung und Geschlechterverhältnis stehen hier im Zentrum der Entwicklungs- und Integrationsprozesse.
Die dritte Schwelle ist die Pubertät beziehungsweise Adoleszenz, in der die Geschlechtsrollen entsprechend den Anforderungen der umgebenden Gesellschaft und Kultur abschließend ausgebildet werden. Das beinhaltet nicht nur das konkrete Geschlechterverhältnis, sondern auch die damit verbundenen Möglichkeiten der Teilhabe am sozialen Leben insgesamt (s.o.) grundsätzlich nach Mechanismen von Gleichberechtigung und Chancengleichheit und darauf basierender Leistung und ihrer Anerkennung im fairen (!) Kampf um Anerkennung.
Die vierte Schwelle ist die Partnerwahl. Die Partnerwahl erfolgt in der modernen Gesellschaft auf der Basis der Entscheidung der Einzelnen in erster Linie nach dem Kriterium affektiver Sympathie und Liebe. Andere Kriterien ("Adäquatheit ") gehen in die Entscheidung natürlich mit ein, werden aber typischerweise von den einzelnen bewertet und nicht von ihrer sozialen Umgebung, wie in der vormodernen Gesellschaft (expl. bei der Verheiratung durch Eltern oder andere Verwandte).
Die Funktion dieses Modus der Partnerwahl ist die gleiche wie beim offenen Verlauf der Adoleszenz in der Moderne. In beide sollen der gegenwärtige Zustand des Sozialen Eingang finden, um eine den Anforderungen und Chancen der Gegenwart optimal entsprechende Entwicklung und Entscheidung zu ermöglichen. Eine hierauf begründete Partnerschaft ist dann gewissermaßen optimiert, eben diesen Gegenwartsbezug in der Sozialisation der Kinder an die nächste Generation weiterzugeben. Und umgekehrt sind alle Einschränkungen dieses Modus Hemmnisse hierfür, die dazu führen, dass die Art der Partnerschaft und die Sozialisation der nächsten Generation Rückstände an Modernität im obengenannten differenzierten Sinne aufweisen.
Eine empirische Untersuchung von Migration, Identität und Integration, die auf diese vier Schwellen des Lebenslaufs fokussiert, ist im Stande, ganz konkret herauszufinden, wie bei den Untersuchten diese Entwicklungen stattfinden und welche Selbstdeutungen sie hiervon haben.
C: Soziale Wirklichkeit und konkurrierende Deutungsmuster >
Dies eröffnet eine weitere fruchtbare Perspektive der empirischen Untersuchung.
Die hier geplante Untersuchung beschränkt sich zunächst auf die genannten vier Schwellen der Entwicklung der Identität und ihre Deutung in den verschiedenen relevanten Kontexten und möchte dann als Option den Auswertungshorizont in dieser Hinsicht erweitern.
Konkret sollen in der geplanten Untersuchung
a. Protokolle der Interaktion in Bezug auf die genannten Schwellen erhoben werden
b. Protokolle von Gesprächsrunden erhoben werden, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer direkt mit einer oder mehrer der vier Schwellen befasst sind
c. Interviews durchgeführt werden mit Migranten und mit professionellen Experten, die an einer der vier Schwellen aktiv sind.
Die Auswertung der erhobenen Protokolle beziehungsweise ihrer Transskripte mit qualitativ-hermeneutischen Methoden der empirischen Sozialforschung soll zum einen darüber Aufschluss geben, wie es um die „ Modernität“ jeweils steht und welche Konflikte zu den tradierten „vormodernen“ Konzeptionen von Identität und Lebensentwurf bestehen.
Sie soll zum anderen Ansatzpunkte identifizieren, an denen die sicherlich vielfach bestehenden Konflikte nicht weiter dethematisiert oder vormodern gedeutet (und psychologisch gesehen „abgewehrt“) sondern einer produktiven kommunikativen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung zugeführt werden können. Schon dies nämlich ist „ modern“: die offene Erörterung von Praktiken und Einstellungen im Hinblick auf ihre befragbaren Gründe an Stelle ihrer unbefragten Übernahme aus einem (vormodernen) Traditionsbestand.
Hieran könnten sich schließlich Angebote anschließen, die an den einzelnen Schwellen in klarer Kenntnis der Richtung und mit einem sicheren Gefühl der Legitimität dieser Richtung beratende und andere Interventionen (z.B. Trainingsprogramme) an die Migranten herantragen, um ihnen und ihren Kindern zu helfen, den Integrationsprozess auf eine fruchtbare Weise zu bewältigen.
Dies würde im übrigen nicht etwa "Anpassung" bedeuten, sondern allererst den Erwerb der Voraussetzungen eines modernen differenzierten Rollenhandelns, das es dann möglich macht, auch kulturelle Variationen auf dem dann erreichten Niveau als Bereicherung für alle einzubringen – so wie man eine Sprache erst durch „Diversität“ bereichern kann, wenn man sie angemessen beherrscht, versteht und spricht.